Haben Sie einen behinderten Auszubildenden? – Teil 3: Von Vorurteilen, Ängsten und Best Practice

von Anja Moos, Trainerin, Coach, Mediatorin, KI-Managerin

Ausbildung behinderter Menschen lohnt sich nicht nur aufgrund der finanziellen Förderungen. Vielmehr sichern sich Unternehmen zukünftige Fachkräfte mit zum Teil einzigartigen Fähigkeiten und eröffnen behinderten Menschen gesellschaftliche Teilhabe und ein selbstbestimmtes, unabhängiges Leben.

Dies bekräftigen folgende Best Practice-Beispiele wie

  • Nesrin Bektas, die zur Kauffrau für Bürokommunikation bei der Kanzlei Dr. Voßmeyer Dommermuth ausgebildet wurde – mit einer 60% igen Förderung vom Arbeitsamt (mehr auf der Seite von Aktion Mensch).
  • Florian Zapf der bei der Porzellanfabrik Hermsdorf trotz Morbus Best (Erkrankung des Sehnervs, Sehkraft von 5 bis 10 %) zum Industriekaufmann ausgebildet wurde – mit einer kompletten Förderung der technischen Hilfsmittel und Ausstattung des Arbeitsplatzes in Höhe von 20.000 € (Zum Beitrag der Arbeitsagentur).
  • Unternehmen wie Takeda Manufacturing Austria AG, die 2023 mit dem ALC Inklusionspreis ausgezeichnet wurden, Malerwerkstätte Karl Müller und Cölner Hofbräu P. Josef Früh KG, die die speziellen Fähigkeiten schwerbehinderter Menschen in den Fokus stellen sowie eine inklusive Unternehmenskultur befördern.

Nesrin Bektas‘ Chefin, Monika Lange, ist die Behinderung erst im Vorstellungsgespräch bewusstgeworden. Davor habe sie diese in den Bewerbungsunterlagen überlesen. Hier gilt es anzumerken, dass nicht alle Auszubildende im Bewerbungsprozess ihre Behinderung bekannt geben, wenn diese nicht offensichtlich ist und für den Ausbildungsberuf unerheblich. Sie müssen es auch nicht – und sollten es auch nicht? Nesrin Bektas hat nach dem Abitur 3 Jahre vergeblich rund 20 Bewerbungen pro Woche geschrieben – auf unterschiedliche kaufmännische Tätigkeiten. Sie ist damit nicht allein: Laut Inklusionsbarometer Jugend (2024) haben nur 48 % der jungen Menschen mit Beeinträchtigung eine Ausbildung machen können, die zu ihnen passt. Dieser „Leidensprozess“ und die hohe Anzahl der Betriebe, die ihre Beschäftigungspflicht teilweise oder gar nicht erfüllen, lassen eine anhaltende Diskriminierung bei der Personalauswahl vermuten – bewusst oder unbewusst. Sie könnte „fortgeschrieben“ werden, wenn der Auswahlprozess durch Künstliche Intelligenz unterstützt wird. Lernt diese die in betrieblichen Daten bevorzugten Einstellungskriterien, werden schwerbehinderte Bewerber von vornherein als „C-Kandidaten aussortiert“ und dem entscheidenden Personalverantwortlichen schlimmstenfalls gar nicht mehr angezeigt. Hier sind Betriebsräte gefordert, die technische Einrichtung und ihren Auswahlprozess gemäß §§ 87 (1) Nr. 6 und § 95 (2a) kritisch zu hinterfragen, zu begleiten und auszugestalten. Die SBV sollte dies ggf. Betriebsräten bewusstmachen. Unabhängig davon ist es im Interesse des Arbeitgebers, derartige Risiken auszuschließen: Gemäß § 1 AGG ist diese schon unzulässig und kann gemäß § 21 Schadensersatzansprüche begründen. Im Sinne der Art. 6 ff. und den Anhängen I und III der KI-Verordnung muss der Arbeitgeber zudem ein Risikomanagement einführen.

Aus Erfahrung von Sybille Kaiser, Geschäftsführerin der Porzellanfabrik Hermsdorf, lassen Arbeitgeber vor allem zwei „Vorurteile“ bei der Ausbildung behinderter Menschen zögern:

  •  „Wenn ich einen behinderten Menschen einstelle, werde ich den nie wieder los.“

Hier ist entgegenzuhalten, dass der Kündigungsschutz schwerbehinderter Auszubildender sich von nicht behinderten Auszubildenden allein durch die vorherige Einholung der Zustimmung durch das Integrationsamt unterscheidet. Dieses prüft „nur“, ob die Kündigung nicht in der Schwerbehinderung begründet ist. Nach der Probezeit ist die Kündigung einer/eines Auszubildenden - behindert oder nicht - seitens des Arbeitgebers nur noch außerordentlich begründbar (bspw. Unterlassung der ärztlichen Untersuchung gemäß JArbSchG, fortlaufendes Fernbleiben von der Berufsschule, beharrliches nicht-Führen des Ausbildungsnachweises, Insolvenz).

  • „Da müssen wir zu viel investieren.“

Diese Befürchtung bleibt in Anbetracht der oben dargelegten Fördermöglichkeiten unverständlich.

Die Liste der Vorbehalte gegenüber behinderten Auszubildenden ist damit nicht abgeschlossen:

  • „Die dürfen keine Überstunden machen.“

Alle minderjährigen Auszubildenden dürfen nur in den Grenzen des JArbSchG beschäftigt werden, also in der Regel nur 5 Tage die Woche, wöchentlich maximal 40 h und täglich maximal 8,5 h pro Tag. Volljährige können Überstunden auch nicht generell ablehnen: Wenn sie pro Tag nur 6 Stunden arbeiten, sind 2 Stunden ggf. zumutbar.

  • „Die können nicht alles machen.“

Gemäß § 14 Absatz 3 BBiB muss das Unternehmen bei allen Auszubildenden darauf achten, dass diese ausschließlich solche Aufgaben übertragen bekommen, die ihren körperlichen Kräften angemessen sind. Das JArbSchG gibt Beschäftigungsverbote für gefährliche Arbeiten vor. Bspw. dürfen Jugendliche nicht Erschütterungen ausgesetzt, also nicht mit Rüttelplatten beschäftigt werden. Auch insoweit sind Schwerbehinderte keine Sonderfälle. Physische wie psychische Gefährdungsbeurteilungen sind im Sinne des § 5 ArbSchG an allen Arbeitsplätzen ohnehin vorzunehmen. Die individuelle Anpassung an die entsprechende Beeinträchtigung des/der schwerbehinderten Auszubildenden dürfte in diesem Zusammenhang keine außergewöhnliche Belastung darstellen – zumal hier das Integrations-/Inklusionsamt fachkompetente Beratung organisieren kann.

All diese Beispiele bekunden also Widerstand, der letztlich seinen Ursprung in Ängsten vor Veränderung hat: Die Ausbildung (Aufgaben, Abläufe, Methoden) umzustellen, bedeutet für den Ausbilder (einmalige) Mehrbelastung. Nicht-hörenden Kolleg*innen Teilaufgaben zu vermitteln – ohne mit der Beeinträchtigung vertraut zu sein oder eine fremde dritte Person (Arbeitsassistenz) dabeizuhaben, ist für Ausbildungsbeauftragte ggf. Stress.

Erleben der Ausbildung von Behinderter als Belastung – keinen Ausbildungsplatz als Behinderter zu bekommen, ist ein negatives Wechselspiel. Dies bekundet folgende Aussage einer Ko-Forscher*in des Inklusionsbarometers Jugend, die selbst eine Beeinträchtigung hat (2024, S. 119): „Wir trauen uns nicht, zur Ausbildungsleitung zu gehen und zu sagen, was uns stört. Denn wir haben Angst davor, dass sie uns fertig machen könnten. Kündigen können wir nicht, weil es schwierig ist, was Neues zu finden wegen der Behinderung“.

Die Lösung liegt im Perspektivwechsel! Das dokumentieren die 3 folgenden Unternehmensbeispiel:

  1. „Es gibt Bereiche, in denen Menschen mit bestimmten Einschränkungen einen Vorsprung haben. Zum Beispiel können sich gehörlose Menschen in der visuellen Kontrolle von flüssigen Arzneimitteln mit ihrem verstärkten Fokus auf den Sehsinn besonders gut einbringen. Menschen im Autismus-Spektrum sind speziell im Bereich der Digitalisierung wie Datenmanagement und Automation Engineering oft besonders begabt“, sagt Hofbauer. Er ist Vorstand der Takeda Manufacturing Austria AG und Leiter der Takeda Produktionsstandorte in Wien "Artikel im "Chemiereport". Bei Takeda ist die inklusive Unternehmenskultur bzw. Corporate Social Responsibility (CSR) in der Unternehmens-DNA verankert: Takeda steht dafür, schwerkranken Menschen innovative Therapien zu ermöglichen und damit deren Lebensqualität zu steigern. Dabei müssen Barrieren überwunden werden. In diesem Bewusstsein werden bei Mitarbeitenden nicht die Einschränkungen, sondern Talente und Fähigkeiten fokussiert. Inklusion wird top down und bottom up gelebt.
  2. Ähnliches berichtet Guido Fussel, Personalleiter der Cölner Hofbräu P. Josef Früh KG: „Wir machen hier auch statistische Auswertungen. Wo wir dann nach einer Weile schon Ermüdungserscheinungen haben, sagt Herr Pieper auch nach Stunden noch: ,Hier fehlt ein Punkt‘ oder ‚Da steht eine falsche Zahl‘.“ Zum vollständigen Artikel. Bei Cölner Hofbräu ist man sich bewusst, dass Kolleg*innen mit einer Dyskalkulie oder Asperger-Syndrom bei neuen Aufgaben mehr Zeit brauchen. Sie gehen gern auf diese ein, da die Beiköch*innen dann mit 100 % ihre Aufgabe bewerkstelligen.
  3. Jessica Müller von der Malerwerkstätte Karl Müller, hat den Perspektivwechsel durch das Buchen eines Gebärdensprachkurses für alle Beschäftigten initiiert: Die hörenden Mitarbeitenden wollten die Gehörlosen besser verstehen. Nach dem Gebärdensprachkurs ist der private Austausch ist viel besser geworden. Der gebärdende berufliche Austausch soll längerfristig nichts Besonderes, sondern „alltäglich“ werden.

Die Chance, die Ausbildungssituation Schwerbehinderter zu verbessern und dem Fachkräftemangel der Unternehmen etwas entgegenzusetzen, liegt also im Einstellungswandel. Dieser zieht dann die Veränderung der Kultur hin zu einem inklusiven Unternehmen nach sich. Arbeitgeber und die betrieblichen Interessenvertretungen (SBV, BR und JAV) können einen solchen Wandel gemeinsam als Projekt planen und (ein)steuern. Wichtigster Baustein eines erfolgreichen Change-Prozesses ist die Beteiligung aller Mitarbeitenden mit und ohne Beeinträchtigung: Nicht ohne uns über uns!

Dann wird die Frage zukünftig lauten: Haben Sie keine*n behinderte*n Auszubildende*n?

 

Alle 3 Teile des Artikels finden Sie auch auf unserer Webseite:

Haben Sie eine*n behinderte*n Auszubildende*n? – Teil 1: Was sagen die Statistiken

Haben Sie eine*n behinderte*n Auszubildende*n? – Teil 2: Finanzielle Vorteile

Haben Sie eine*n behinderte*n Auszubildende*n? – Teil 3: Von Vorurteilen, Ängsten und Best Practice